TikTok ist ein Spiel mit unsichtbaren Regeln. Wer gewinnt, bekommt Reichweite, Anerkennung, manchmal auch Geld. Wer verliert, verschwindet. Die Netflix-Serie „Squid Game“ hat diese Logik bereits 2021 auf die Spitze getrieben – mit tödlichem Ausgang. Aber was, wenn die Parallelen mehr sind als nur Allegorie? Wenn TikTok längst selbst zur dystopischen Arena geworden ist – mit echten Konsequenzen? Dieser Artikel geht dem nach.

Südkorea: Leistungsgesellschaft unter Druck

Der kulturelle Hintergrund der Serie ist entscheidend für ihr Verständnis. In Südkorea ist das Bildungssystem extrem kompetitiv, die Arbeitswelt hyperproduktiv, und soziale Sicherungssysteme nur begrenzt tragfähig. Viele junge Menschen fühlen sich in einem Dauerzustand der Erschöpfung und Überforderung. Wer scheitert, fällt tief – und oft unsichtbar.

Die Suizidrate in Südkorea zählt zu den höchsten aller OECD-Länder. Arbeitslosigkeit, Altersarmut und Schulden prägen viele Biografien. In diesem Umfeld erscheint der Gedanke, sich auf ein tödliches Spiel einzulassen, plötzlich weniger absurd, sondern als bitteres Gleichnis. „Squid Game“ griff genau diese Lebensrealität auf und übersetzte sie in eine dystopische Arena.

Staffel 1: Brutale Katharsis für die Welt

Die erste Staffel wurde zur emotionalen Projektionsfläche für Zuschauerinnen und Zuschauer weltweit. Die anonymen, maskierten Mächtigen, das perfide Regelwerk, die verzweifelten Spielerinnen und Spieler – das alles wirkte gleichzeitig fremd und erschreckend vertraut.

Besonders Kulturschaffende erkannten in der Serie eine Allegorie auf kreative Ausbeutung: Wer zu sehr an Idealen festhält, wird aussortiert. Wer sich verkauft, bleibt im Spiel. Und wer gar nicht mitmacht, verschwindet. Auch das ist eine Form von Gewalt.

Staffel 2: Realität als Metapher

Mit Staffel 2 – und spätestens mit dem Reality-Spin-off „Squid Game: The Challenge“ – wurde klar: Die Grenze zwischen Fiktion und Plattformmechanik ist längst durchbrochen. Die Kritik an Ausbeutung wurde zur Blaupause für ein neues Medienformat. Und niemand schien sich mehr daran zu stören. Im Gegenteil: Es klickte sich gut.

Die vermeintliche Kritik an Gewalt, Gier und Gruppendruck wurde in ein Businessmodell übersetzt. Menschen ließen sich freiwillig filmen, während sie an physischen und psychischen Grenzen agierten – für Geld, Ruhm oder Sichtbarkeit. Aus der Warnung wurde eine Anleitung.

TikTok: Plattform oder Spielarena?

Wer TikTok als Tanzplattform abtut, hat nicht verstanden, wie das Spiel funktioniert. Hier herrschen ganz eigene Selektionsmechanismen: Sichtbarkeit ist selten Verdienst, sondern Zufall oder Kalkül. Viele Creatorinnen und Creatoren zahlen mit Zeit, Intimität und Dauerverfügbarkeit. Die „Spielregeln“ ändern sich ständig, sind intransparent, und belohnen oft nicht die Besten, sondern die Lautesten.

Nur eine kleine Minderheit verdient auf TikTok tatsächlich Geld. Und selbst unter diesen wenigen profitieren am meisten die, die ohnehin schon eine Reichweite oder Marke mitbringen. Der Rest hält sich mit Hoffnungen über Wasser. Es ist das klassische Plattform-Prinzip: Winner takes it all. Viele gehen leer aus. Auch das ist Squid Game.

Zugleich fördert TikTok ein System, in dem Zuschauerinnen und Zuschauer zu Mitspielerinnen werden: Jeder Klick beeinflusst den Algorithmus, jede Interaktion wird zur Währung. Der Druck, viral zu gehen, trifft längst nicht nur Creator, sondern auch Konsumenten. Wer schweigt, verliert Sichtbarkeit. Wer aneckt, riskiert Sperren. Wer sich anpasst, wird vielleicht belohnt.

TikTok übersetzt das Squid-Game-Prinzip in wirtschaftlich verwertbare Aufmerksamkeit. Die Plattform lebt vom Spektakel, vom Risiko, vom Näherkommen an eine Grenze. Und sie lässt die Zuschauerinnen und Zuschauer mitspielen – mit jedem Swipe.

Fazit: Es war nie nur ein Spiel

„Squid Game“ zeigt, wie weit Menschen gehen, wenn sie keine andere Wahl sehen. TikTok zeigt, wie wir dieses Prinzip gamifizieren und monetarisieren. Der Unterschied? In der Serie wird gestorben. Auf der Plattform wird nur vergessen.

Und doch bleibt eine unbequeme Frage: Wenn wir die Mechanismen durchschauen – warum spielen wir trotzdem mit?

Quelle: MEEON #40
Text: Wie viel Squid Game steckt in TikTok?
Bilder: MEEON