Warum Menschen mit Bindungstrauma zwischen Sehnsucht und Rückzug schwanken – und was echte Nähe so schwer, aber so wichtig macht.

Nähe ist für viele ein Versprechen: von Sicherheit, Zärtlichkeit, Verbundenheit. Für andere ist sie ein Ausnahmezustand. Menschen mit Bindungsverletzungen wissen oft genau, wie sich Nähe anfühlen sollte – und spüren gleichzeitig, wie sie unerträglich wird, wenn sie zu real wird.
Nicht, weil sie nicht lieben können. Sondern weil sie nie sicher waren, ob Liebe bleibt, ohne zu verletzen.
Dieser Text ist keine Anklage. Und keine Anleitung. Er ist ein Versuch, Worte für ein Gefühl zu finden, das viele verdrängen: Ich will dich. Aber ich halte dich nicht aus.

#56 – Zusammenfassung Auto-Slide

Nähe ist kein Versprechen

In einer sicheren Kindheit wird Nähe zum Grundgefühl. Sie ist da, ohne dass man sie festhalten muss. Sie bedeutet: Du darfst sein, ohne etwas leisten zu müssen. Für viele ist genau das nie passiert. Stattdessen: Ambivalenz. Kontrolle. Unerreichbarkeit. Oder Übergriffigkeit.
Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges beschreibt, wie unser Nervensystem auf soziale Reize reagiert. Menschen mit sicheren Bindungserfahrungen aktivieren den sogenannten „sozialen Vagus“: Entspannung, Offenheit, Mitgefühl. Bei traumatisierten Menschen hingegen springt das System viel schneller in den Überlebensmodus: Kampf, Flucht, Erstarrung. Nähe wird dann neurologisch als Bedrohung erlebt – selbst wenn sie objektiv sicher ist.

Was von außen aussieht wie Kälte oder Desinteresse, ist innen oft eine Überforderung: Herzrasen, Druck in der Brust, Gedankenflucht. Kein Spiel. Kein Widerstand. Sondern ein reflexhafter Rückzug vor dem Gefühl, überrollt zu werden.

Die Angst, sich selbst zu verlieren

Wer in Beziehungen früh gelernt hat, sich an andere anzupassen, verliert oft das Gefühl für die eigene Grenze. Nähe wird dann nicht als Begegnung erlebt, sondern als Preisgabe: Ich bin nur sicher, wenn ich funktioniere. Ich bin nur liebenswert, wenn ich dich nicht überfordere.
Und irgendwann: Ich bin nur ich, wenn du weg bist.

Viele Menschen mit Bindungstrauma erleben genau diese Dynamik. Sie sehnen sich nach echter Verbindung – aber sie fürchten die Auflösung des Selbst. Deshalb ziehen sie sich zurück, werden abweisend, ironisch oder sogar hart. Nicht aus Lieblosigkeit, sondern aus einem verzweifelten Bedürfnis, sich selbst zu schützen.

Das Tragische: Wer sich schützt, verliert oft genau das, was er sich wünscht. Nähe wird zum Verlustgeschäft. Und Schweigen zum Schutzschild.

Was ich brauche, aber nicht immer zulassen kann

Menschen mit dieser Geschichte brauchen nichts „Besonderes“. Sie brauchen Verlässlichkeit. Klarheit. Geduld. Kein Drama, keine Spielchen, keine Heilsversprechen.
Aber auch: keine Überforderung. Kein Zuviel. Kein ständiges Nachbohren.
Die größte Herausforderung? Ehrlich damit umzugehen, ohne ständig erklären oder rechtfertigen zu müssen. Beziehungen werden dann nicht einfacher, aber echter. Weil beide Seiten lernen, dass Nähe nicht immer sanft kommt – manchmal klopft sie wie ein Sturm.

In der Traumatherapie spricht man von „titration“ – einem behutsamen Herantasten an belastende Reize. Auch Nähe darf so verstanden werden: nicht als Dauerflut, sondern als feiner Strom, der langsam wachsen darf. Nicht jeder Mensch ist dafür gemacht – aber manche sind bereit.

Und manchmal reicht schon ein Satz wie:
„Ich merke, dass ich grad viel fühle. Ich brauch kurz Raum, aber ich geh nicht weg.“

Was bedeutet Nähe für dich? Kannst du bleiben, wenn’s eng wird – oder gehst du auch, bevor es weh tut?

Quelle: MEEON #56
Text: Wenn Nähe zu viel wird – Warum ich Menschen liebe und fliehe
Bilder: MEEON

Video: MEEON