Remote Work galt lange als Königsweg der neuen Arbeitswelt. Doch aktuelle Studien zeigen: Nicht jede Person profitiert davon. Wer nach einem Job ohne Homeoffice sucht, tut das nicht aus Bequemlichkeit oder Traditionalismus, sondern oft auf Grundlage klarer Überlegungen zur eigenen Arbeitsfähigkeit und mentalen Gesundheit.

Präsenzarbeit bietet nicht nur Struktur und soziale Interaktion, sondern auch arbeitspsychologische Vorteile, die in der Debatte häufig untergehen – weil Flexibilität meist überbewertet wird, Kontext aber kaum berücksichtigt.

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Homeoffice: individuell wirksam, aber nicht universal vorteilhaft

Laut einer Meta-Analyse der International Labour Organization (ILO) aus dem Jahr 2022 hängt die Wirksamkeit von Homeoffice stark von Arbeitsinhalt, sozialer Einbindung und Selbstorganisationsfähigkeit ab. Besonders Menschen in kreativen oder konzeptionellen Berufen profitieren häufig von Remote-Modellen – nicht aber zwangsläufig alle Mitarbeitenden in Dienstleistungs- oder Koordinationsfunktionen.

Die deutsche Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) kam 2023 zu ähnlichen Ergebnissen: Homeoffice kann zu höherer Autonomie führen, gleichzeitig aber auch das Risiko von Entgrenzung und psychischer Erschöpfung erhöhen – vor allem, wenn klare Pausenstrukturen fehlen und soziale Rückmeldungen ausbleiben.

Präsenzarbeit als Stabilitätsfaktor

Mehrere Studien aus der Arbeits- und Organisationspsychologie zeigen: Räumliche Trennung von Arbeits- und Privatleben erleichtert den sogenannten „Boundary Management Process“ – also die Fähigkeit, zwischen Rollen zu wechseln, ohne Überlagerung von Anforderungen. Eine Studie der Universität Konstanz (2021) belegt, dass Menschen in Präsenzarbeit signifikant seltener von „Work-Family-Interference“ berichten als Personen im Homeoffice.

Auch der sogenannte soziale Facilitator-Effekt, bekannt aus der Gruppenforschung, entfällt im Homeoffice vollständig: Allein das Arbeiten in Anwesenheit anderer Menschen kann Motivation und Konzentration messbar verbessern – auch ohne direkten Austausch.

Konzentration, Kommunikation, Koordination

Was viele unterschätzen: In Teamkontexten ist Homeoffice kein vollständiger Ersatz für Präsenz. Die Harvard Business School veröffentlichte 2020 eine Untersuchung zur Produktivität in verteilten Teams. Ergebnis: Remote-Settings erhöhen die Einzelarbeitsleistung, verschlechtern jedoch die Koordinationsfähigkeit und erhöhen Konfliktrate und Missverständnisse – vor allem, wenn asynchrone Kommunikation dominiert.

Das deckt sich mit Beobachtungen aus der Wirtschaftspsychologie, wonach Mimik, Körpersprache und spontane Rückkopplung in physischer Präsenz zur emotionalen Regulation im Arbeitskontext beitragen – ein Aspekt, der im digitalen Raum oft untergeht.

Nicht jede Wohnung ist ein Arbeitsplatz

Neben psychologischen Faktoren sind auch arbeitsrechtliche und gesundheitsbezogene Rahmenbedingungen entscheidend. Laut DGB-Index Gute Arbeit aus dem Jahr 2023 verfügen rund 40 Prozent der abhängig Beschäftigten, die regelmäßig im Homeoffice arbeiten, nicht über einen ergonomisch geeigneten Arbeitsplatz zu Hause. Häufig genannte Probleme: ungeeignete Sitzmöbel, fehlende Abgrenzung zu Mitbewohnenden, technische Einschränkungen.

Hinzu kommt: Die faktische Verlagerung von Betriebskosten (Strom, Heizung, Infrastruktur) auf Beschäftigte wird selten als Belastung anerkannt, obwohl sie die Arbeitsrealität vieler Menschen konkret verändert.

Bewerbungsrealität: Flexibilität als nicht verhandelbares Ideal?

Aktuelle Bewerbungsanalysen zeigen: Das Schlagwort „Flexibilität“ wird oft als universeller Anspruch verstanden – ohne Rücksicht auf individuelle Voraussetzungen. Eine qualitative Studie der Universität Leipzig zu Recruiter-Erwartungen (2023) verdeutlicht, dass das offene Einfordern von Präsenzarbeit in Bewerbungsgesprächen als „Widerstand gegen neue Arbeitsmodelle“ interpretiert wird – auch wenn die Bewerbungsleistung sonst überzeugend ist.

Damit wird deutlich: Die Entscheidung für einen Job ohne Homeoffice ist gesellschaftlich nicht neutral. Wer sie trifft, braucht nicht nur Argumente – sondern auch Mut zur Positionierung.

Homeoffice ist für viele ein Fortschritt – aber nicht für alle. Wer heute lieber vor Ort arbeitet, muss das oft rechtfertigen. Warum eigentlich? Wie sieht gute Arbeit aus, wenn sie sich nicht an Schlagwörtern, sondern an echten Bedürfnissen orientiert? Welche Erfahrungen hast du gemacht – mit Präsenz, Struktur oder Homeoffice-Müdigkeit?

Quelle: MEEON #91
Titel: Suche Job – aber bitte nicht im Homeoffice
Foto: MEEON
Video: MEEON