Es ist nachts. Du liegst im Bett, starrst an die Decke – und der Körper vibriert. Kein Lärm, kein Druck. Und trotzdem: Anspannung. Gedanken kreisen. Muskeln ziehen sich zusammen. „Entspann dich doch mal“, sagen andere. Als ob das eine Frage der Entscheidung wäre.
Viele Menschen leben in einem Zustand ständiger innerer Alarmbereitschaft. Nicht, weil sie es wollen – sondern weil sie nie gelernt haben, dass nichts passieren könnte.
Dieser Text ist für alle, die nicht loslassen können, weil es nie sicher genug war, um locker zu lassen.
Wenn Sicherheit nie gelernt wurde
Menschen, die in emotional instabilen oder bedrohlichen Umfeldern aufgewachsen sind, erleben die Welt anders. Ihr Nervensystem ist darauf trainiert, Gefahr zu erwarten – jederzeit.
In der Psychotraumatologie spricht man von Hypervigilanz: einem Zustand übermäßiger Wachsamkeit. Das Herz schlägt schneller, die Gedanken flackern, der Körper bleibt im Standby-Modus – bereit zur Flucht, auch ohne Anlass.
Das ist kein Charakterproblem, sondern eine Überlebensstrategie. Wer nie wusste, wann etwas kippt, entwickelt ein Frühwarnsystem. Und das lässt sich nicht einfach per Entspannungsübung ausschalten.
Warum Ruhe manchmal schlimmer ist als Stress
Was für andere Erholung bedeutet – ein ruhiger Abend, ein leerer Kalender – kann für Betroffene bedrohlich wirken. Denn: In der Stille wird das Unverarbeitete laut. Und in der Ruhe taucht das auf, was sonst weggedrückt wird. Das Gehirn, besonders bei Menschen mit frühen Traumatisierungen, reagiert auf fehlende Reize nicht mit Entspannung – sondern mit innerem Aufruhr. Statt in Sicherheit fällt das System in innere Leere. Und die ist oft schwerer auszuhalten als der Stress, an den man sich gewöhnt hat.
Was hilft – und was nicht
Sätze wie „Du brauchst einfach mal Urlaub“ oder „Probier’s mal mit Yoga“ greifen zu kurz. Was hilft, ist kein schneller Tipp – sondern ein anderer Umgang mit sich selbst.
Dazu gehört:
– das Erkennen der eigenen Überlebensstrategien
– psychoedukative Ansätze (z. B. Polyvagal-Theorie verstehen)
– Körperarbeit, die langsam Vertrauen schafft (z. B. Somatic Experiencing)
– sichere Beziehungen, die keinen Druck ausüben
Vor allem aber: Geduld. Nicht mit dem Ziel, irgendwann „normal“ zu sein – sondern, um die eigene Anspannung als das zu sehen, was sie ist: ein kluger Versuch, heil durchzukommen.
Kennst du diese ständige Wachsamkeit? Was passiert bei dir, wenn es plötzlich ruhig wird?
Quelle: MEEON #60
Text: Ich kann nicht abschalten. Weil ich nie sicher war.
Bilder: MEEON
Video: MEEON