Es beginnt nicht mit einem Gedanken. Auch nicht mit Worten. Es beginnt im Körper – wenn Nähe zu viel wird. Manche Menschen frieren dann innerlich ein, andere fliehen. Wieder andere halten aus, obwohl alles in ihnen schreit: „Geh weg.“ Wer früh gelernt hat, Zuwendung mit Kontrolle, Schuld oder Schmerz zu verknüpfen, wird später oft unsicher im Umgang mit Nähe. Der Kopf sehnt sich nach Verbindung, aber das Nervensystem sagt: Gefahr. Dieses Textstück folgt nicht der Ratio, sondern der somatischen Intelligenz des Körpers – und fragt, warum viele von uns lernen mussten, sich selbst zu übergehen, um dazuzugehören.

#63 – Zusammenfassung Auto-Slide

Körpersignale statt Worte

„Ich hab doch gar nichts gemacht“, sagen Menschen oft, wenn man sich von ihnen zurückzieht. Was sie übersehen: Nähe entsteht nicht erst durch Handlung, sondern durch Ausstrahlung, Präsenz, Erwartung. Wer feinfühlig ist, spürt diese Dinge vor jedem Wort. Manchmal reicht ein Blick, ein Tonfall, ein Raumgefühl – und der Körper geht auf Alarm. Schweiß, Enge, Herzklopfen. Kein Drama, sondern Biologie.

Polyvagal-Theorie in der Praxis

Die Polyvagal-Theorie beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem auf soziale Reize reagiert: mit Verbindung (ventraler Vagus), Kampf/Flucht (Sympathikus) oder Erstarrung (dorsaler Vagus). Für Menschen mit Bindungstrauma kann Nähe paradox wirken: Sie wünschen sich Kontakt, aber ihr Nervensystem stuft ihn als bedrohlich ein. Das ist kein Persönlichkeitsproblem. Es ist ein Regulationsproblem.

Wenn Nähe chronisch unter Hochspannung steht

Wer Nähe als unsicher erlebt hat – etwa durch manipulative Eltern, körperliche Übergriffe oder emotionale Kälte – trägt ein Körpersystem, das auf Habacht programmiert ist. Nähe wird dann zur Daueranspannung. Selbst in liebevollen Beziehungen. Das Resultat: Rückzug, Konflikte, emotionale Taubheit oder „Funktionieren“. Dahinter liegt selten Gleichgültigkeit. Meist ist es Überforderung.

Der stille Selbstverrat

Am schlimmsten wird es, wenn man sich selbst nicht mehr glaubt. Wenn man denkt: „Ich übertreibe. Ich bin beziehungsunfähig. Ich muss das einfach aushalten.“ So beginnt der leise Selbstverrat. Die Missachtung eigener Grenzen. Der Körper sagt Nein, aber man bleibt. Weil man Angst hat, falsch zu sein. Weil man Nähe so sehr will – dass man sich selbst darin verliert.

Nähe, die sich sicher anfühlt

Echte Nähe beginnt nicht mit Offenheit, sondern mit Sicherheit. Ein gutes Gespräch. Eine respektierte Grenze. Ein Nein, das Raum bekommt. Wer lernt, auf die Körpersignale zu hören, kann beginnen, sich nicht länger zu überfordern. Nähe wird dann nicht zur Prüfung, sondern zur Erfahrung. Nicht zur Schuldfrage, sondern zum echten Kontakt. Vielleicht klein. Aber echt.


Was sagt dein Körper, wenn es zu eng wird? Und was brauchst du, damit Nähe nicht wehtut? Schreib’s dir auf – für dich. Oder teil es weiter. Es geht vielen so, aber kaum jemand spricht darüber.

Quelle: MEEON #63
Text: Dein Körper sagt Nein, bevor du es merkst
Bilder: MEEON

Video: MEEON